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Lieber Thomas!
Die Zukunft
Die da oben
  Psst als Job
  Leben zu Trainingszwecken
  Verähnlichung
  Das Diadem des Bildungsbürgers
  Demokratiedefizite in Märchen
  Die Farbe der Kinder
  Die Entpferdung des öffentlichen Raumes
  So muss Deutsch
  Gar keine Enttäuschung
  Designbefreit
  Wieder sehen
  Werben beim Rollrasen
  Brennpunkt Autobahnauffahrt
  Toskana ist überall
  Vom Verstummen der Mittelwelle
  Paradiesische Missstände
  Dresscodes der Sklaven
  Der abgedrehte Drehknopf
  Kein Vormund im Mund
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Lieber Thomas
Im Irrläufer-Lesesaal der Post in Lübeck liegt ein aufschlussreiches,
in der Annahme verweigertes Anschreiben aus, das ich mir erlaube, ungekürzt wiederzugeben:
Lieber Thomas!
Herzlichen Dank für Dein Interesse an unserem Schreibwettbewerb zum Thema ,Der letzte Husten'!
Dein Manuskript „Der Zauberberg" haben wir mit Interesse angelesen.
Wie Du aber aus der Presse sicher bereits erfahren haben wirst, hat sich die Jury anderweitig entschieden, auch übrigens, was die Preise Vier bis Neunundneunzig betrifft, unsere beschrifteten Kugelschreiber und Mauspads.
Aber nicht traurig sein, lieber Thomas!
Gerade, weil ich in Deinem Text auch das eine und andere Talent erkenne und momentan ein wenig Muße habe, will ich Dir hier gerne ein paar Tipps geben, wie Du Dein Schreiben verbessern kannst, zuzüglich Sprache und ganz besonders auch Stil.
Du hast Reserven, Thomas!
Das fängt schon bei der Wahl des Stoffes an. Mag sein, dass unsere Siegerautorin mit ihren „Lebensbilanz einer Neunzehnjährigen" unüberlesbare Schwierigkeiten zeigt, Sätze grammatikalisch zu vervollständigen. Auch hat sie offenbar einige Rechtschreibreformen übersprungen. Aber ihre von sparsamen Handlungsfäden durchwirkten Mitteilungen aus dem Millieu der Topmodels, Drogenabhängigen und Sexbesessenen zeugen von einem scharfen Marktinstinkt, der mit keinem Schachtelsatz aufzuwiegen ist!
Du solltest es einfach mehr krachen lassen, lieber Thomas!
Angesichts eines Hauses voller Betten wie die Lungenklinik, die Du als durchaus coole Location für Deinen Schreibversuch ausgewählt hast, finden sich in Deiner Niederschrift entschieden zu wenig Bettszenen. Auch sind derzeit möglichst eklige Beschreibungen diverser Körperausdünstungen und -Flüssigkeiten äußerst beliebt. ‚Eiter-besinnlich' lautet heute die Parole. Und da bin ich beim interessierten Anlesen Deiner literarisch ambitionierten Ausarbeitung höchstens auf etwas tuberkulösem Auswurf gestoßen. Da ist also Dein ,Zauberberg' ein rechter Zauderzwerg, um mal einen Scherz zu wagen, den Du sicher nicht übel nimmst.
Was hätte aus einer Bergklinik nicht alles zum Stichwort ,Doktorspiele' herausgeholt werden können!
Unsere Sieger-Autorin, von welcher man noch viel hören wird, wahrscheinlich mehrals lesen, weiß in all ihrer orthografischen und stilistischen Hilflosigkeit doch immer ganz genau, was der geile Markt will. ,Lesen ist Sexkino im Kopf, hat mal irgendeiner gesagt, vielleicht war ich das sogar selber.
Nun rümpfe, lieber Thomas, nicht gleich die Nase und verweise auf den einen oder anderen Preis, den Du mit Deinen schriftstellerischen Gehversuchen bereits erworben hast. Abgerechnet wird nur leider nicht vor der Ewigkeit, sondern an der Ladenkasse. Bei einem Preisausschreiben spielt zudem auch manches mit, was sich ein Eleve der Feder wie Du nicht gerne träumen lässt.
Unsere Siegerautorin etwa, die sich mit ihrem Fließtext „Lebensbilanz einer Neunzehnjährigen" auch sehr erfolgreich von ihren Katzenbüchern freigeschrieben hat,
weiß, lieber Thomas, welche Art von Texten eine Jury gern gewinnen lässt.
Ein Siegertext muss sich fluffig weglesen, lieber Thomas. Fluffigkeit ist vielleicht ein gutes Orientierungs-Schlagwort,
das bei Dir immer im Hinterkopf mitticken sollte, wenn Du an Deinen Texten herumklempnerst.
Ein Veranstalter eines literarischen Preisausschreibens will sich, das verstehst Du bestimmt,
selber natürlich im Ranking und so verbessern und mit den PreisträgerInnen quasi schmücken, und da ist es, lieber Thomas Mann, zum Beispiel auch gar nicht verkehrt, wenn man zum Beispiel etwas attraktiv ist. Hast Du wenigstens mal überlegt, Dich nicht dauernd vor wuchtigen Schreibtischen fotografieren zu lassen, sondern zum Beispiel mal im Sprung über einem Salatbeet mit einem frechen Blick zur Seite?
Natürlich gebe ich Dir Recht: entscheidend ist der Text, vor allem aber, dass es nicht zu viel davon wird.
Ein Roman kann heute auch ein Großdruck von achtzig Seiten sein.
Im nächsten Jahr werden wir das Limit für Einreichungen wohl weiter auf sieben oder achthundert Zeichen begrenzen.
Wir sind ja schließlich Menschen, die nicht ewig lesend auf dem Klo sitzen.
Des Weiteren ist die Lebensnähe der Leserschaft wichtig. Nach Davos oder Sankt Moritz, lieber Thomas, fahren vielleicht Leute, die eine Kaufhauserbin geheiratet haben und denken, nun sind sie was, aber nicht das, was man so kaufstarke Zielgruppe nennt.
Abschließend hoffe ich, dass ich Dich, lieber Thomas,
jetzt nicht entmutigt habe und Du beim nächsten Wettbewerb wieder mitmachst.
Das Thema ist „Heiße Liebesnächte in Venedidg". Bestimmt fällt Dir dazu was ein.
Deine Jury-Jane.
2010
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Die Zukunft
Nach meiner Prognose sind wir in zehn Jahren halbtags damit beschäftigt,
Ladestationen zu finden und zu bestöpseln.
Wir haben längst nicht nur Smartphone, Laptop und Elektroauto,
sondern auch noch wenigstens unsere Datenbrille und das Gesundheitsüberwachungsarmband.
(Nicht, um die Gesundheit zu überwachen, sondern die Kosten der Krankenversicherung,
welche sinken, wenn wir genügend laufen. (Deswegen sieht man im Stadtpark gemietete Jogger mit zwanzig Armbändern rechts und links.)
Es ist schon heute erstaunlich, wie enttäuschungsresistent die Liebe des Menschen zur Technik ist.
Von der Technik vor allem erwartet er sich die Rettung vor sich selbst.
Die Verlängerung des Lebens bei gleichzeitiger Verkürzung der Wege.
Die Sicherheit vor den Bösen mit böse programmierter Technik.
Es wird damit auch die Zeit kommen, da uns die Technik das geben muss,
was wir so lange für unersetzbar menschlich gehalten aber nicht mehr offline verfügbar haben: Güte und Liebe.
Die Anfänge sind längst getan.
Wer sich, beispielsweise, an das schroffe Geknarze früherer Bahnhofsdurchsagen erinnert,
weiß das Klangparfüm, in welches der Bahnreisende heute gehüllt wird, zu schätzen.
Als die automatische Bahnhofsfrau irgendwann in den Neunzigern den frappierten Reisenden das erste Mal die
Verspätungen lasziv ins Ohr blies,
schien sie viel zu erotisch für die sanierungsbedürftigen Hallen.
Jedoch in der Zukunft ist jeder Liebes-Ersatz willkommen.
Sehr viel künstliche Intelligenz wird kommen und darauf verwendet werden,
die natürliche Dummheit auszunutzen.
Das Kaufimpuls-Fracking wird zunehmen.
Überall lauern die Probe-Abos, Upgrades, Rabatte und Gewinnspiele und sonstige Vorteils-Simulationen.
Bezahlen kann man künftig mit allem: mit Telefon, Fingerabdruck und wahrscheinlich auch mit
Gürtel und Schnürsenkel oder nur einem flüchtigen Nicken.
Es bleiben auch in Zukunft noch ein paar Minuten vor dem Einschlafen um nachzudenken.
Und sich damit zu trösten, dass Andere noch nicht einmal etwas zum Laden haben.
Seltsam, dass sie so leben wollen wie wir.
Aber sie denken auch an nichts als an die Zukunft, diesen endlosen Tunnel mit den immer gleichen Lichtern am Ende:
Frieden, Wohlstand, Glück, Zufriedenheit.
Womöglich, denkt man im Halbtraum, sind es nur LED-Leuchten.
August 2016
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Die da oben
Es ist eine Ikone des Zeitgeistes: Fußballer stehen, den Ball unterm Arm, auf dem Rasen und schauen
zu, was auf der Tribüne los ist.
Pyro, was werfen, Schmähplakate.
Die Umkehr des Spektakels.
Der Mensch von heute will geguckt werden statt nur zu gucken.
Man dürfte dergleichen Aufmerksamkeits-Umkehrschub bis etwa 1960 nicht dokumentiert finden.
Das Ich hat es nicht ganz leicht, sich in einem großen Stadion befriedigend zu manifestieren.
Es greift zu lodernden Waffen. Doch das Feuerwerk erfreut niemanden, denn dazu ist es nicht da.
Niemanden zu erfreuen ist jetzt Herzenssache.
Wenn es Protest ist, was die Ränge wollen, wie derzeit mit den Tennisbällen,
scheint der Protest niemanden mitnehmen zu wollen, sondern lediglich die Nichtprotestierenden
zur Geisel zu nehmen. Die sollen unter langen Spielunterbrechungen leiden, denn andere sind als Opfer nicht verfügbar.
Solcherart Ersatzfeindschaft führt, ganz wie bei den 'Klimaklebern' nicht zum Gewinn von Sympathie für berechtigte Anliegen.
Aber Sympathie ist nicht das Ziel.
Im Unterschied zu den Fußballern. Aber die werden dafür ja auch bezahlt.
Februar 2024
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Psst als Job
Ich sammele ja beobachtend Existenzen, das heißt, ich wundere mich gern, auf welche Weise man heutzutage sein Geld verdienen kann.
Einen der merkwürdigsten Jobs, die ich kenne, stöberte ich zu Rom in der Sixtinischen Kapelle auf.
Eine Weile die tollen Gemälde betrachtend, die einen in einer solchen Fülle und Bildgewalt umgeben, dass dort nur Kunstmuffel in Ruhe Andacht halten können, hörte ich in Abständen immer wieder „Psst!“
Das war auch nötig, denn Menschen schaukeln ihre Lautstärke gern auf, was ich auch letztens in einem angesagten Berliner Restaurant bemerkte, in welchem wir uns zuerst zutuschelten und zwei Stunden später anschreien mussten. Es war Berlinale, und lauter wichtige Menschen versuchten mal wieder, immer wichtiger, ergo lauter zu werden. Es ist, nebenbei, einer der Flüche der Menschheit und allen Seins, dass der Lauteste oft eher Gehör findet als der Lautere.
Aber zurück nach Rom.Da stand also inmitten der global ansteigenden Touristenfluten ein Mitarbeiter der Vatikanischen Museen und hatte nichst weiter zu tun, als cirka alle zwei Minuten sehr, sehr deutlich, beinahe laut, „Psst!“ zu zischen. Was er virtuos beherrschte! Ein „Psst!“-Künstler vor dem Herrn! Bestimmt gibt es richtige „Psst!“-Kurse und Coache, vielleicht helfen die römischen Zahnärzte auch etwas nach.
Das „Psst!“ (manchmal auch „Psssssssst!“) sollte immer wieder daran erinnern, dass man nicht in einer bemalten Bahnhofshalle, sondern an einem geschichtlich und geistlich wichtigen Ort weilt, obwohl natürlich auch so manche Bahnhofshalle ihre Geschichten erzählen könnte.
Da ich in der Sixtinischen Kapelle kein Wort sprach, fühlte ich mich natürlich ungerechtfertig ermahnt, vor allem, als der Psstler auch noch in meine Richtung blickte, wenn auch nur kurz. Er verstand es, sehr rasch sehr viele Besucher anzuschauen. Nicht bösartig, mahnend, ernst und auch etwas vom Burnout eines Berufszischers gezeichnet.
Vielleicht, dachte ich mir, tauschen sie die Leute auch regelmäßig aus. Wer zehn Jahre nur „Psst!“ sagt, dürfte psychisch gefährdet sein und womöglich eher als andere an Tourette-Symptomen wie Koprolalie erkranken, was ihn für den Kapellendienst ziemlich unbrauchbar macht. Vielleicht geht der Psst-Dienst daher reihum.
Wenn nun Konklave ist, haben jedenfalls alle frei. Wenn es hoch hergeht, wird ein Kardinal den Job übernehmen müssen.
August 2019
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Leben zu Trainingszwecken
Endlich weiß ich, wozu ich lebe. Zu Trainingszwecken.
(Was ich schon lange vermutete.)
Die Hotlines holen jetzt immer meine Zustimmung zum Aufzeichnen des Gespräches.
Irgendwann werden sie dann meinen Anruf im Seminar “Renitenzkompetenz” auswerten und in allen denkbaren Verläufen
bis zum Erfolg der Firma durchspielen.
Gern möchte ich ausrufen, dass mein Anruf keine Übung ist, sondern ein echter Notfall,
eine wirkliche Störung oder Reklamation, aber wie ich feststelle trainieren sie gerade wieder,
nicht ans Telefon zu gehen.
Mittlerweile kann ich diese Zeiten des Zurückgeworfenseins genießen.
In diesen Minuten der halben Ankunft,wartegeschleift und mit PR-Tinnitus sediert,
steigen die philosophischen Seinsfragen auf.
Was kann ich hoffen?
Was ist der Mensch?
Was kann ich wissen?
Was wird das kosten?
Und was gibt es an mir zu trainieren?
Wollen sie hinter meine Schliche als gewitzter Reklamateur kommen,
die rhetorischen Finessen auskundschaften,
mit welchen ich meine berechtigten Ansprüche herbeischwatze?
Warum zeichne ich nicht selbst das Gespräch gleichfalls auf,
um im Nachhinein das Florett meiner eigenen Klageführung zu wetzen?
Nicht zum ersten Mal gewährte ein Wettrüsten den Frieden und ein Gleichgewicht der Schrecken!
Müsste man machen, müsste man machen.
Sonst werden sie eines Tages jedes Gespräch gewinnen.
Auch die Resignation des Kunden werden sie dann natürlich als Zufriedenheit werten.
Dass sie mit Zufriedenheit gar nicht Zufriedenheit meinen,
merkt man immer schon an den Zufriedenheitsumfragen, die derartig nerven,
dass sich im Beantworten derselben nie im Leben auch nur ansatzweise ein Zufriedenheitsfeeling einstellen kann.
Da können sie verlosen was sie wollen.
Auch das Aufzeichnen dient ganz ausdrücklich der “Erhöhung der Kundenzufriedenheit”.
Nun ist aber, was ignoriert wird, die Kundenzufriedenheit in den meisten Fällen ganz und gar nicht stufenlos zu erhöhen,
sondern von bestürzend simpler binärer Logik:
Entweder, etwas funktioniert oder es funktioniert nicht.
Funktioniert es, bin ich zufrieden, wenn nicht, dann nicht.
Alles ist viel einfacher, als es sich Zufriedenheitstrainer träumen lassen.
Einmal hatte ich, meinem Karma zuwider, ein schönes Reklamationserlebnis.
Ich rief um eine Lampenschale an, die zersplittert geliefert wurde,
gleichwohl die Lampe verpackt war, als wollte man sie aus einem Frachtflugzeug über ein Notstandsgebiet abwerfen.
Die Lampe lag in Plastikpolsterfolie, die in Papier gewickelt war, das in Papier gewickelt war,
umgeben von einem Karton, der in Styroporflocken schwebte, die sich in einem gefütterten Umkarton befanden.
Theoretisch konnte der Lampenschirm gar nicht zerbrechen,
und ich machte mir deshalb Sorgen, ob man mir die Weisheit abnähme,
dass selbst in den tiefsten Tiefen der Geborgenheit die Zerstörung hausen kann.
Bereits nach zwei Ruftönen ohne Mitschnittwarnung nahm eine freundliche Dame mein Gespräch an,
welche den Eindruck erweckte, auf meinen Anruf geradezu gewartet zu haben.
Scherbenversand schien dort die Norm zu sein,
und vielleicht hätten sie sogar von selbst bei mir angerufen, wenn ich mich nicht gemeldet hätte.
Ohne großes Training im Herumzieren schickte sie mir eine neue Lampenschale,
die genau so verschwenderisch verpackt war, als gäbe es für diesen Planeten kein Morgen.
Aber sie war unversehrt, und ich erwog sogar, zur Erhöhung der Lieferantenzufriedenheit noch einmal anzurufen.
Doch ich ließ es.
Dabei wäre es vielleicht schön gewesen. Eine Art wirkliches Gespräch zwischen Menschen.
Nächstes Mal werde ich es tun.
Zu Trainingszwecken.
(Diese Glosse von 2019 inspirierte mich später zum Hörstück Vom Überleben in Angeboten)
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Verähnlichung
Man weiß und sieht seit langem, dass Menschen in Paaren oder Menschen und ihre Hunde einander immer ähnlicher werden.
Das ist fast immer komisch und daher erfreulich, denn wir sind für jede Aufheiterung dankbar.
Indes erweist sich diese Ähnlichkeitstendenz bei gründlicher Beobachtung als wesentlich universeller,
als sie nur auf enge Lebensgemeinschaften anzuwenden.
Zunächst bemerkte ich, dass der Backhähnchenverkäufer in seinem Verkaufswagen irgendwie auch gegrillt aussah.
Es würde sicher knuspern, wenn man ihm in die Wange kniffe, was sich nicht schickt.
Die Gesichter der Ärzte auf dem Krankenhausflur, hatten sie nicht einen Anflug von Schmerz?
Schlagersänger ähneln sogar zunehmend den Hallen, in denen sie auftreten.
CellistInnen scheinen eher in die Breite zu gehen als Geigespielende.
Sparkassenmitarbeiter ähneln sogar dem Kontostand ihrer Klientel.
Unklar ist, was Ähnlichkeitswerdungen auslöst.
Allen, die darüber staunen und grübeln, werde ich wahrscheinlich immer ähnlicher.
2019
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Das Diadem des Bildungsbürgers
Museumsbesucher sind an der Leine zu führen
Von unsichtbaren Fäden gezogen, treiben mit Audio-Guide gekrönte Häupter wie Nesselquallen durch die Ausstellungsflure, nötigenfalls durch mich hindurch, sollte ich dem gewisperten Befehlen in ihren Ohrmuscheln im Wege stehen.
Man kann jetzt auch nicht mit ihnen sprechen, denn sie werden gerade mit dem 24-bändigen Brockhaus aufgeladen.
Der ich unverstöpselt durchs Museum laufe, werde mit verächtlichen Blicken bespuckt.
Mir jedoch scheint es immer klüger, Belehrung zu meiden.
Natürlich verstehe ich im Unterschied zu den Zeitgenossen Tizians nicht jeden biblischen Hintergrund eines Gemäldes. Aber sollte ich das Nachschlagen dem Betrachten vorziehen?
Käme ich nicht eben dadurch den erwähnten Zeitgenossen nahe, dass ich nicht in der Luft mit Bildung betankt werde, sondern mir einfach nur Zeit nehme, mich auf das Schauen einzulassen?
Manchmal fummeln die Audio-Guide-Träger nervös an ihrem Audio-Guide herum, weil er die Geheimnisse des Bildes plötzlich für sich behält wie ein verplombtes Orakel. Zum Fummeln setzt sich der Gestörte hin, als erlahme auch seine eigene Batterie. Viel zu fummeln gibt es an den Dingern nicht, und er muss zum Eingang, sich neu beguiden lassen. So, wie er schaut, sollte man ihn malen.
2019
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Demokratiedefizite in Märchen
Offenbar gibt es keine Märchen, die in Republiken spielen.
So sehr ich herumzappe.
Ich mache mir langsam Sorgen.
Ob das pädagogisch nicht doch etwas bedenklich wird?
Klar ist eine Demokratie weit weniger dekorativ als ein barocker Hofstaat. Weder A. Merkel noch F.W. Steinmeier laden zum Kronenschmuck ein. Eine Prinzessin zu verheiraten ist viel romantischer als einen Koalitionspartner zu finden.
Aber was sagt der Rechnungshof dazu, das halbe Königreich als Mitgift zu verschleudern?
Die Happyends vieler Märchen basieren auf bejubelter Ausbeutung.
Verständlich ist der feudale Hintergrund natürlich noch bei den Brüdern Grimm in ihrer Zeit. Höchstens gibt es da gesellschaftlich neutrale Räume, in welchen die Agierenden dann aber auch einzig auf sich gestellt sind. Hänsel und Gretel müssen im rechtsfreien Raum des Knusperhäuschens ohne Polizei und Staatsanwalt auskommen. Rotkäppchen hat auch nur Glück, dass der Wolf noch nicht unter Bestandsschutz steht.
Märchen, heißt es, lassen der Fantasie freien Lauf. Warum kann Schneewittchen nach Abschaffung der Stiefmutterdiktatur nicht auch mal freie Wahlen ausrufen?
Unterstützt von der Bundeszentrale für politische Bildung.
Das halbe Königreich kann ja zur Not über Staatsanleihen finanziert werden.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann zahlen sie noch heute.
2019
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Die Farbe der Kinder
Mit ihren quietschbunten Schulranzen und ebenso anschlaggrellen Klamotten sehen die Kinder aus wie Bonbontüten auf Beinen. Es barmt mich ihrer jedes Mal.
Dass Kinder in ihrer Farbenpracht dem Autofahrer auffallen mögen, mag eine edle Absicht sein,die allerdings von der geschmacklichen Verwahrlosung aufgewogen wird. Wie soll ein Mensch in diesem Farbenlärm zur Besinnung kommen? Gewiss werden die grauenhaft kolorierten Kleinen nicht überfahren, aber geschmacklich überrollt allemal.
Und manches Mal, wenn plötzlich so eine kleine Litfasssäule um die Ecke kommt, verliere ich vor Schreck beinahe die Gewalt über das Fahrzeug.
Mein Schulranzen war nichts als lederfarben, ein helles Braun. Er roch nach Leder und sah nach Leder aus, ebenso wie die so genannte Federtasche. Ich habe es niemals vermisst, dass auf meiner Schultasche weder Prinz Eisenherz noch Superman, Biene Maja, Pittiplatsch oder ein Säbelzahntiger abgebildet waren. Allein ehrliche Tintenflecke und speckig abgewetzte Partien adelten das Ding. Ich wusste, dass es aus Tierhaut gemacht wurde. Blass waren auch die Buntstifte und die Wasserfarben für den Zeichenunterricht. Bis zuerst die so genannten Filzstifte einmarschierten. Die Farben begannen zu leuchten, aus dem Papier zu springen.
Es war ein Angriff.
Heute befällt mich helles Entsetzen bereits beim Blick in Kinderzimmer oder Läden für den Schulbedarf, die man in ihrer Grelle nur mit Sonnenbrille betreten kann.
Es wird so oft darüber gesprochen, Gewalt gegen Kinder zu vermeiden. Hier könnte man anfangen.
2019
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Die Entpferdung des öffentlichen Raumes
Erst jetzt aufgefallen, dass keine Reiterstandbilder mehr aufgestellt werden.
„Guten Morgen!“ ruft ein jeder, denn das hätte bitte sehr schon vor zwanzig Jahren geblogt werden können. Ist aber nicht.
Gemessen an der mehrtausendjährigen Ausdauer, mit welcher Mann-auf-Pferd (feminine Ausnahme: Johanna von Orleans) in Bronze getrieben wird, kommt der Abbruch der Produktlinie immer noch ziemlich plötzlich.
Natürlich ist zunächst das Auto schuld, das zweierlei bewirkte: es demokratisierte die Fortbewegung (das Hochtrabende verschwand), aber es versetzte den sich Fortbewegenden auch in den Zustand der Sünde ob des Ressourcenverbrauchs.
Der Fürst von gestern führte noch klimaneutral seine Kriege. Mit Auspüffen unter’m Hintern hingegen mochte man sich nicht auf dem Marktplatz verewigt sehen.
Vorbei auch die Zeit, da sich die Herrscher darin zeigen, wie sie den Völkern voran reiten, wenn auch nicht immer mit gutem Beispiel, so doch mit gutem Pferd. Auch stehen heute die Ausgaben für personenbezogene Denkmäler grundsätzlich nicht mehr ganz oben auf den Veruntreuungslisten.
Die meisten Denkmale der letzten Jahre werden positiver Weise auch mehr den Opfergruppen von Machtexzessen als den Mächtigen gewidmet. Nach den Reitern kommen die Getretenen.
Es gab freilich zwischen Reiterstandbild und Zuschandegerittenenmahnmal noch das kleine Intermezzo des besockelten Fußgängers, vor allem in der Mangelwelt des Stalinismus („Pferd ist aus!“), wo dem Blech-oder Stein-Lenin nur übrig blieb, einfach stehend irgendwo in die Ferne zu weisen oder, wie Marx und Engels in Ost-Berlin, an einer virtuellen Haltestelle sitzend/stehend den Lauf der Dinge abzuwarten, was überhaupt das Klügste war.
Die Wendy-Phase der Denkmalgestaltung ist jedenfalls definitiv überwunden.
Wir reiten überhaupt nirgendwo mehr hin.
Die Pferde wissen das schon.
2019
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So muss Deutsch
"Wir können draußen!", stand am Eingang des Gartencenters.
Manche, dachte ich sogleich, können überall.
In sprachlicher Hinsicht wollen sie aber immer seltener können. Seit "Da werden Sie geholfen!" in der Reklame auftauchte, entdecken Sprücheklopfer den Charme des Unwissens.
Auch sonnt sich das Deutschland von heute in der bewussten Distanz zur preußischen Korrektheit.
"Wir sind Wurst" textet noch die kleinste Fleischerei.
"Wir hassen teuer" ist einem Freund der Sprache mindestens so hassenswert wie das Teuer.
Noch fallen die Sprachgurken auf. Aber wenn sich die Leute erst an das Kleinkind-Blabla gewöhnt haben, könnte es auch langweilig werden. Oder noch schlimmer: zur Sprachnorm.
"Der Duden hilft Sie!" wird es dann heißen.
(Den Trends der Interpunktion folgend womöglich sogar "Der. Duden. Hilft. Sie.")
Leider bin ich 20. Jahrhundert. Und hasse hässlich. Und kann drin.
So werde ich, wie viele Alte, nur die Wahl haben zwischen fügsam und lächerlich.
Das König der Dilemmas.
2019
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Gar keine Enttäuschung
Oft sieht man nicht, wie ehrlich die Worte sind.
„Enttäuschung“ zum Beispiel wirkt zunächst traurig, doch dabei sagt es nur, dass das, was erwartet wurde, eine Täuschung war und diese Täuschung nun aufgehoben wird.
Es ist eine Art Genesung.
Man sollte daher für jede Enttäuschung dankbar sein.
Das Wort Enttäuschung beim Wort zu nehmen, enttäuscht also angenehm.
2011
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Designbefreit
Manche Gegenstände sind offenbar des Designs enthoben.
Formgestalter interessieren sich entweder nicht dafür, ihnen Aussehen zu verleihen, oder die Gegenstände selbst verweigern sich dem gestalterischen Zugriff.
Es gibt zum Beispiel keine gut aussehenden Aquarien.
Die Fische müssen alles rausreißen.
Im Fachhandel bietet sich stets eine triste Kistenlandschaft liebloser Verschläge.
Ähnlich formlos geben sich die trostlosen Pyramiden der so genannten Grillkamine. Zu ihrer Herstellung wird auch ausschließlich der hässlichste Beton der Welt verwendet.
Gute Designer, denke ich mir, ahnen nichts vom gestalterischen Notstand auf dem Baumarkt. Sie verzehren ein Barbeque allerhöchstens an einer teuren gasgespeisten Edelmetall-Grillbar und wissen nichts von der Existenz dieser monströsen Bratwurst-Mausoleen.
Vielleicht ist beim Grillkamin der Tunnelblick des Benutzers ohnehin allein auf den Verzehr verkohlter Kadaver gerichtet, was braucht es da Design!
Die Scheußlichkeit des Kohlebeckens ist, um im Grillbild zu bleiben, wurscht.
Und das ja schon seit der Steinzeit.
Den Dingen Schönheit zu geben, hat im Hunger seine Grenzen.
2011
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Wieder sehen
Nach einer Weile Brilletragen sieht man unvollständig aus, wenn man sie abnimmt.
Soweit man das ohne Brille sehen kann.
Das Gesicht hat etwas frisch Geschlüpftes.
Ein Zug von Verstörtheit umspielt die Lippen, Erregtheit auch über das Abenteuer des Nichtgutsehens.
Aber alle forschende Neugier und Aufregung verschwindet schlagartig mit dem Wiederaufsetzen.
Das Gesicht rastet ein und tut wieder, als gäbe es nichts zu sehen.
2007
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Werben beim Rollrasen
Ein unerschöpflicher Born geistiger Anregung sind dem Autofahrer die Beschriftungen von Lastwagen.
Heute gab es einen vorläufigen Höhepunkt, als ich an einem Sattelschlepper ganz groß „Fassadenwelt“ las.
Die Beschreibung eines gesellschaftlichen Zustandes in einem Wort! Philosophie auf Rädern, Kompliment!
Welten kommen einem auf der Autobahn öfter mal entgegen oder werden von mir locker überholt. „Fliesenwelt“ oder „Teppichwelt“.
Leben mag ich in keiner von ihnen, aber danach geht es ja nicht immer.
Nicht einmal die „Welt der Getränke“ böte ein glückliches Zuhause.
Sicher muss man nicht alles glauben, was auf einer Plane steht.
„Wir baggern aus Leidenschaft“ kam heute vorbei und scheint eher behandlungswürdig.
Eine Spedition ergänzt ihren Firmennamen mit einem dicken fetten „wer sonst“.
Die Verkehrsdichte bestätigte dieses Alleinstellungsmerkmal nicht.
Oft kommen auch Reime vorbei, denn der Reim soll das Erfolgserlebnis desjenigen,
der ein Reimwort gefunden hat, auf das zu bewerbende Produkt übertragen. Allerdings wird nach meiner Beobachtung nur noch in mittelständischen Unternehmen gereimt, dort aber umso mittelmäßiger.
An Rasttätten plumpst nicht selten aus einem mit schlanken, jungen Party-Typen verzierten Truck ein dicklicher, oller Muffel. Die emotionale Quersumme ist dann Null.
Sie fahren eben alle nur Behauptungen spazieren. Wie es da drinnen aussieht, erfährt man fast nie.
Fassadenwelten.
2007
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Brennpunkt Autobahnauffahrt
Das ganze menschliche Drama von Gewalt und Zärtlichkeit, enttäuschter Zuwendung, Rache und Größenwahn, Begierde und Zurückweisung - das alles spielt sich in der Einfädelspur zur Autobahn ab.
Gibt es das Gute im Menschen?
Wenigstens jetzt mal?
Besteht Hoffnung? Was kann ich wissen? Wer bin ich?
Hier wird sich all das zeigen.
Das Beste ist natürlich, wenn sich durch geheimnisvolle Synchronizität von selbst eine Lücke anbietet, in welcher man sich und seine irdische Blechhülle münden darf.
Oft weichen auch Gutmenschen, obwohl von keiner Verkehrsregel genötigt, auf die Überholspur aus, als wollten sie sagen: „Willkommen, Mitmensch, Bruder!“
Aber sie murmeln höchstens kurz: „Scheiße.“ Wollen nur der Eventualität des Bremsenmüssens entgehen. Ob ich es schaffe oder bis Weihnachten da stehe und blinke, schert sie nicht.
Nichts ist so alt wie die Autobahnauffahrt von vorhin.
Eine schöne Täuschung bleibt es mithin, und erst der Liebhaber bayerischer Kraftwagen hinter mir, der mit irgendeiner Art Warp-Antrieb aus dem Nichts heraus hinter mir und an mir vorbeischießt, als gäbe es kein Morgen, bringt mich in die darwinistisch strukturierte Wirklichkeit der Autobahn zurück. Was ist der Mut eines Tarzan, sich an der Liane in den Dschungel zu schwingen gegen den Versuch, mit 56 PS in eine Lasterlücke zu stoßen?
Bei uns rollt ja vor allem unentwegt das aufstrebende Osteuropa heran in den gewaltigen Schwungmassen vermutlich kaviarbeladener Sattelschlepper. Osteuropa boomt so sehr, dass es nicht bremsen KANN für einen krepeligen Twingo des alten Westens. Doch muss ich, so sehr ich auch am Leben hange, irgendwie zwischen den rollenden Aufschwung, und sollte ich auch zwischen ihm und einem der vielen umherirrenden Möbelwagen der rastlosen Moderne zermalmt werden.
Besonders manifestiert sich ein Gefühl der Todesnähe, wenn vor dem eigenen Fahrzeug jemand der selbstmörderischen Irrlehre folgt, es müsse in die Autobahneinfädelspur möglichst langsam gefahren werden. Mit der Langsamkeit einer Flipperkugel.
Mag ich sonst ein großer Freund der Langsamkeit sein, so ist sie unter deren Feinden nicht am Platze. Mit dem Strom des Lebens muss man mitziehen!
Und zieht man erst einmal mit, ist das kleine Drama des äußerst verharmlosend als „Einfädeln“ beschriebenen Schicksalsversuchung vergessen. Jetzt kann der Verkehr endlich fließen! Wenn er nicht mal wieder steht. Zu viele eingefädelt.
2013
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Toskana ist überall
Dass ein Reiseziel in die Herzen der Menschen gedrungen ist, bemerkt man daran, dass eine Badfliesenserie nach ihm benannt ist.
Oder ein Klappstuhl.
So gibt es die meisten Artikel eines Baumarktes längst in der Ausführung „Toskana”: Fliesen, Heizkörper, Wannen, Gewächshäuser, Einbauküchen, ja ganze Einfamilienhäuser sind unter dieser Bezeichnung im Angebot. Viele Kunden halten „Toskana” (wahlweise auch „Toscana”) deshalb auch nicht mehr für eine Landschaft, sondern, je nachdem, für einen Seifenhalter oder einen Papierkorb.
Oder eine Treppe. Eine Ausbau-Firma wirbt für „eine Treppe wie die Toscana.” Sie ist aus Beton.
Man kann, ohne dass ein Italiener es bemerken würde, das ganze Haus mit Toskanarien ausstatten und anschließend sogar in der Hollywoodschaukel „Toscana, blau”, (sie hat wenigstens ein wasserabweisendes Dach,) blau machen.
Warum gibt es eigentlich nicht die Toscanaschaukel „Hollywood”?
Modelle mit dem Namen „Toskana” fallen häufig rostrot aus, wie Angebranntes. Weswegen es wohl auch den Moulinex-Toaster „Toskana” gibt und die gleichnamige Silit-Pfanne.
Manchmal sind die „Toskana”-Ausführungen etwas verspielt, oder der Name wird vergeben, weil man sich irgendwie für eine stilistische Entgleisung rechtfertigen will.
Die Handgetreidemühle „Toscana” von Kornkraft „ist der Turbo unter den handbetriebenen Kornmühlen.” Das ist wenigstens ein akzeptables Gleichnis zum Tourismusbetrieb der Region.
Was kaufen wohl die Leute dort? Den Pizzaofen „Neuschwanstein”?
Die Produktbezeichnung mit Ferienzielen verwandelt den Traum von der Idylle in konsumfreudiges Verhalten.
Irgendwann muss man gar nicht mehr weg.
Nur noch zum Baumarkt.
Dort holt man sich etwas Toskana und baut es zuhause einfach ein. Die Anleitung liegt bei, und Garantie gibt es auch.
Auch an den, der es bis zum Fachhandel nicht mehr schafft, ist übrigens gedacht: selbstverständlich gibt es auch einen Sarg gleichen Namens.
Die letzte Reise soll schließlich erst recht ins Paradies gehen.
2009
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Vom Verstummen der Mittelwelle
Besäße ich noch mein allererstes Radio - ich könnte es nun endgültig nicht mehr benutzen.
Es hatte nur Mittelwelle.
Mit gleichmäßigem Rauschen würde es nun den ganz falschen Eindruck erwecken, dass die Menschheit verstummt wäre.
Früher war sehr viel los in dem kleinen Radio. Vor allem ab Einbruch der Dunkelheit, wenn die Wellen der Mittelwelle und ihre Reflexionen an der Ionosphäre nicht mehr von der Sonne unterdrückt wurden.
Ich nahm das elterliche „Schlaf schön!“ widerspruchslos entgegen und zog unter dem Kopfkissen das kleine russische Radio hervor, das nicht ganz unpassend „Kosmos“ hieß. Wenn man den Abstimmknopf ganz langsam drehte, flog man mitten aus dem Kinderbett auf einmal kreuz und quer durch Europa.
Das konnte keine Ultrakurzwelle bieten! Mit UKW blieb man zuhause in seinem goldenen Klangkäfig.
Aber auf dem Mittelwellenband drängten sich die Nationen auf jedem Millimeter!
RIAS oder Deutschlandfunk waren nur ein Zwischenhalt. Über Österreich und die Schweiz hinaus geriet man in ein wüstes und immer aufgeregtes Sprachengewirr. Manchmal erstickten die Stimmen in athmosphärischen Störungen, aber die scheinbar Ertrinkenden redeten unter Wasser unentwegt weiter, tauchten triumphierend wieder auf oder übertönten einander schrill auf zu nahe liegenden Frequenzen.
Die Mittelwelle war die Arena des kalten Krieges.
Es war eine gewaltige Besserwisserei im Gange, und es war ein Genuss, eine erregte Kommentatorenstimme mit einer klitzekleinen Drehbewegung aus dem Radio zu kicken, um mitten in die nächste Tirade zu geraten, von der BBC zu Radio Moskau, oder zum Vatikan, oder, eine besondere Delikatesse, zum albanischen Auslandsdienst. Albanien war damals so ziemlich mit allen in der Welt aufs Herrlichste verkracht und wetterte ebenso gegen die amerikanischen Imperialisten wie gegen die so genannten Kremlfaschisten. Ähnlich bizarr war der „deutsche Freiheitssender 904“, aus der DDR gen Westen gestrahlt. Er versuchte, bei hoffnungslos naiven Gemütern den Eindruck zu erwecken, dass in der Bundesrepublik eine proletarische Revolution heranreifte. Dazu wurden gern auch mystische Botschaften aus dem vermeintlichen Untergrund gesendet. „Eichhörnchen meldet: das Nest ist bereit.“
Mittelwelle machte Spaß. Und man konnte irgendwann auch gut einschlafen.
Besorgt bemerkte ich allerdings schon damals, dass alle im Äther der Meinung waren, Recht zu haben. Alles sendete aneinander vorbei.
Mittelwellensender waren riesige Meinungspumpen mit enormer physikalischer Kraft. In der unmittelbaren, wohl dann auch schon gefährlichen Nähe einer Senderöhre konnte man eine Leuchtstoffröhre in die Luft halten, und sie leuchtete.
Den Strom kann man nun also sparen.
Wer weltweit Radio hören will, kann bitte im Internet streamen.
Aber es ist nicht mehr das Gleiche. Die Stimmen der Welt treten nicht mehr auf einer Skala an, sondern wollen nun im Dschungel aufgestöbert werden. Der sportliche Erfolg, dank einer Überreichweite mal besonders weit hinaus zu lauschen, fehlt. Wer will, kann mühelos die Lokalnachrichten der Osterinsel hören. Heute ist alles nebenan.
Der kalte Krieg entwickelt sich lieber auf Facebook, während im Äther der Kampf vor allem darüber geführt wird, ob die besten Hits aller Zeiten besser sind als die tollste Musik.
Der Rest ist Schweigen, auf Mittelwelle.
2015
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Paradiesische Missstände
An einem „Taschenparadies“ vorbeigekommen.
In logischer Konsequenz, denke ich, muss dieses ein jenseitiger Ort sein,
an welchem tugendhafte Taschen (die nichts zu verbergen haben?) ein angenehmes Dasein in Ewigkeit fristen.
Komplementär dazu müsste es übrigens auch eine Taschenhölle geben, einen Orkus bösartiger Börsen,
handgreiflicher Hand- oder Reisetaschen, ewig büßend für klemmende Reißverschlüsse und dergleichen.
Oder meint das Taschenparadies durchaus eines für Menschen, nur im Kleinformat?
Damit man immer eins dabei hat in der Hölle?
Das Wort „Taschenparadies“ ist übrigens ebenso irreführend wie
das ebenfalls einmal von mir erspähte „Schnitzelparadies“.
Zwar tritt hier das Postmortale deutlicher hervor, doch dürfte sich
buchstäblich kein Schwein sonderlich danach sehnen, in diesem Paradies in die Pfanne gehauen zu werden.
Ist überhaupt je ein Paradies verheißen worden, dass die Vorfreude darauf verdient?
Mit meinen Zweifeln schließe ich mich Taschen und Schweinen an.
2019
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Dresscodes der Sklaven
Postbotin und Politesse erschienen in wie immer gegensätzlicher Mission: Bringen und Nehmen.
Ich bemerkte gleichwohl, dass sie mich durch ihre Kleidung nicht beeindrucken wollen.
Jeder Anschein von Obrigkeit wird vermieden. Nichts außer der Bestimmtheit eines Strafzettels erinnert
bei der Nemesis des Ordnungsamtes an die Zeit der einschüchternden Uniformen. Alle, die früher in solchen steckten, sehen heute entspannt aus. Irgendwie nach Freizeit, obwohl sie diese, und da wäre ich eher bei der Postzustellerin, immer weniger haben
Die in heutigen Zeiten harter Zustelltakte schweißdurchlässige, wespenfarbene Funktionswäsche des Postlers ist, wie alles pur Praktische, leider unausweichlich hässlich. Aber sicher wetterfest in jeder Beziehung. Sie trotzt Starkregen ebenso wie Flirtversuchen. Ein Touch von Bergwandern im Pamir umgibt sie, wo man auch amodisch herumläuft, weil oberhalb von fünftausend Metern außer notgeilen Yetis niemand zur Würdigung des Outfits vorhanden ist.
Ein Doppelsinn des Wortes "postmodern" stößt mir auf.
Man kauft den Postbringenden jede Lohnforderung ab, während man einst den verbeamteten Postboten in der soliden Uniform mit ihren Kragenspiegeln und hier ein Posthorn, da ein Posthorn natürlich gut versorgt wähnte.
Aus und vorbei.
Ich glaube, dass Briefträger auch seltener von Hunden gebissen werden,
weil sie jetzt den ultimativen Verpiss-dich-Dress haben. Na gut, und ein Auto.
Die alte Uniform musste ja auch das Fahrrad kompensieren.
Heute ähneln die Postboten frappierend den Paketen, die sie austragen.
Die Parkstrafzettel hingegen werden in, ich nenne das, Verharmlosungstracht ausgestellt.
Hier soll die Kleidung den Schrecken der Gewalt lindern.
Doch gelingt es nicht, die Angst zu nehmen,
wenn der Parkautomat mal wieder defekt ist und bürgerlicher Gehorsam dadurch unmöglich wird.
Wird mein liebevoller "Automat kaputt"- Zettel im Fenster Eindruck machen?
Ich sollte der friedfertig wirkenden Haube, die auch einen Hauch von fürsorglicher Krankenschwester hat, nicht glauben. Das kecke Hütchen zitiert bei genauer Betrachtung wohl auch eher die Jagd. Oder den Räuber Robin Hood, der seine Beute an die Bedürftigen gegeben hat? Auch die Einnahmen des Ordnungsamtes fließen ja in die Kasse der Allgemeinheit. So wie früher in diesen Hüten eine Fasanenfeder steckte, könnte sich sich einen Mercedesstern anheften.
Plötzlich fällt mir ein, dass ich es in ganz jungen Jahren zum Oberpostsekretär gebracht hatte, weil die Technik beim Rundfunk damals zur Post gehört hatte. Wir brauchten aber keine Uniform zu tragen, nicht einmal zu besitzen. Es fühlte sich an wie ein Privileg der Freiheit. Dieses Gefühl ist ohnehin durch kein verordnetes Kleidungsstück zu erreichen.
Die Dienstkleidungen von heute suggerieren freilich fälschlich, dass die Uniform überwunden ist.
Es ist nur intensiv an ihrer Verharmlosung herumdesignt worden.
Uniformiertheit weitet sich sogar aus, und sei es, dass irgendwelche PR-Teams im gleichen T-Shirt Flyer verteilen.
Am kuriosesten sind mir die uniformierten ModeratorInnen bei Sky Sport.
Warum müssen die gleich gekleidet sein?
Geht das eher in Richtung Vereinstrikot?
Nein, sie sehen ein bisschen aus wie Mitarbeiter eines Bestattungsunternehmens.
Manchmal passt es immerhin zum Fußballspiel.
2019
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Der abgedrehte Drehknopf
Manchmal denke ich, es sollen die Alten und Sehschwachen mit Absicht aus der Nutzung der Technik rausgekickt werden.
Noch zwei Fernbedienungen mehr auf dem Sofatisch, und es braucht nicht mal mehr Demenz, um das nächste "Sommerfest des deutschen Schlagers" unerreichbar zu machen.
Ganz zu schweigen von einer an sich nützlichen Hilfe für Sehbehinderte, der man schon mal boshaft den Zungenbrecher "Audiodeskription" verpasst hat. Um die einzuschalten, braucht man Adleraugen und technikfolgsame Intelligenz 2.0. Die es brauchen, finden es nicht. Es herrscht schließlich Digitaldarwinismus.
Hilfen sind heute sowieso keine, sondern höhnende Simulationen derselben.
Es ging los mit der Abschaffung von Drehknöpfen aller Art.
Knöpfe waren Designern Dornen in den Augen. Je weniger zu erkennen waren, desto schöner erschien ihnen das Gerät. Wahrscheinlich wäre ein völlig armaturenfreier Gegenstand das Schönste überhaupt. Ein Stein zum Beispiel. Das wusste bestimmt schon Ötzi. Und dazu kehren wir heute zurück, nur ist der Faustkeil von heute das Smartphone. Scheinzeit statt Steinzeit.
Das Drehknopfverbot reichte irgendwann nicht mehr aus, um heutig zu sein und die SeniorInnen abzuhängen, die nicht gut fürs Image sind, wenn ausgerechnet sie als Ascheanwärter ein Produkt loben.
Aber ganz so leicht hängt man sie nicht ab. Die Alten von heute schlucken ja heimlich Ginseng und joggen geistig mit Sudoku. Sie kriegen trotz Touchscreen und Multifernbedienung einen Sender rein (den sie meist gleich wieder aus machen). Es braucht langsam neue Altensperren.
Eine ist die Pflicht, sich namentlich anzumelden für irgendeinen Shop, Club oder Äpp. So alte Knöpfchendreher sind nämlich misstrauisch und melden sich nicht gern namentlich an. Sie haben schon viel Schreckliches erlebt und sind darauf nicht mehr so neugierig wie Junge.
Jede Generation versucht, die vorhergehende zu überwinden, erst recht in einer Welt, in welcher gegenseitiger Respekt sozialer Goldstaub ist.
Das Verlebte abstoßen wie eine Raumkapsel die Trägerraketenstufen.
Netterweise könnte man ein bisschen Kram mit Drehknöpfen zurücklassen.
Aber nein. Wir müssen weiter. Zu neuen Barrieren.
2019
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Kein Vormund im Mund
Unter gar keinen Umständen wechsele ich beim Zähneputzen die Zahnreihe dann,
wenn der Piepston aus der elektrischen Zahnbürste genau dieses befiehlt.
Die kleine Revolte kurz vor dem Schlafengehen.
2021
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